21. Februar bis 03. März 2010
Unter dem Motto – In eigener Sache: Bilder, Objekte, Monotypien –
präsentiert sich Inge-Rose Lippok nun mit Ihren neuen Arbeiten den interessierten Besuchern.
Stilles Ver-rücken der Stühle
von Dariusz Muszer ©
Meine Damen und Herren, geschätzte Kunstfreunde,
liebe Inge-Rose!
Ich habe eine sehr primitive und heimtückische Art, die Kunst zu betrachten. Das gebe ich gerne zu. Ich richte mich nach dem Gefallen, nach meinem Gefallen, nach meinem Schlecht- und Gutdünken. Was man so über die eine oder andere äußere Erscheinung von Kunst sagt, ist mir im Grunde gehupft wie gesprungen. Schade für die heutige Menschheit, doch gut für die Kunst im Großen und Ganzen, für mich und vor allem gut für die Kunst von Inge-Rose Lippok. Denn ich nehme ihre Werke persönlich; ich sauge sie – die Werke, nicht Inge-Rose Lippok – so, wie ich es will. Und ich muß dabei oft schmatzen.
Stühle. Es wimmelt von Stühlen. Zweckgemäß sind Stühle zum Sitzen da – nicht um von Menschen verlaßen zu werden, nicht um einsam in einem Raum zu verharren. Sitzt der Mensch auf einem Stuhl, ist die Welt des Stuhls und des Menschen in Ordnung. Steht aber der Mensch auf und geht fort, ist er auf einmal stuhllos, und der Stuhl ist menschenleer.
Es hat mich schon immer intereßiert, was Stühle machen, wenn sie von Menschen verlaßen wurden. Bleiben sie menschlos sitzen? Tanzen sie etwa, schlagen Purzelbäume vor Freude? Oder schmollen sie herum und blasen den blaßesten Trübsinn, den jemand je geblasen hat? Suchen sie sich andere Menschen aus und locken sie zu sich, um besetzt zu werden? Verwesen sie, gehen sie zugrunde, heiraten sie andere Stühle und haben womöglich Kinder? Ja, ich bin ein Mann, ein falsches Halbblut, dazu voyeuristisch veranlagt – ich will es sehen und wißen! Ich brenne zu erfahren, wie sich die Dinge entwickeln, wenn sie mir aus den Händen gleiten, wenn sie aus meinem Blickwinkel verschwinden.
Und endlich habe ich eine Meisterin gefunden, die mir sagt, wo und wie es langt geht, was die Sache ist. Inge-Rose Lippok zeigt mir, was ein Stuhl macht, wenn der Mensch weg ist: Der Stuhl spielt ver-rückt. Einfach so. Der Stuhl fängt an, sich zu bewegen, sich zu entfalten, umzuwandeln. Es war also falsch von mir anzunehmen, Stühle seien für mich da. Das Gegenteil ist der Fall: Ich bin der, den ein Stuhl braucht. Ohne mich würde der Stuhl, ja, würden alle Stühle des Universums ständig in Bewegung bleiben. Wenn ich mich hinsetze, erstarren sie vor Anstrengung und warten nur darauf, daß ich aufstehe und schleunigst verschwinde. Dann können sie das machen, wofür sie berufen sind: zum Ver-rücken, an einen anderen Platz zu rücken.
Bei Inge-Rose Lippok geht es aber noch weiter: Nicht nur Stühle transformieren und stellen sich ver-rückt an, wenn wir wegschauen – die ganze Welt steht auf dem Kopf, also endlich richtig. „Lichtplätze“ können beispielsweise nur „leicht ver-rückt“ werden oder mutieren zu Orten „für einen, der gern zwischen den Stühlen sitzt“ oder „der gern verkehrt herum sitzt“. In der Welt der leicht ver-rückten Plätze taucht ein Ort auf, von dem aus die Künstlerin träumte oder aber von dem sich die Künstlerin ver-rückt austräumte. War das ein „Traum eines Dreiäugigen“ (ein wunderbares Werk, einsam in seiner verkehrten und verzerrten Figurativität), oder bloß die ewige Suche nach der Antwort auf die Frage: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“? Wer denn? Doch wir alle! Die Künstlerin ist nicht allein. Dann können wir beruhigt weiter Außchau halten!
Und da landen wir bei oder in den „blauen Gefängnißen“. An der Zahl gibt es 28 davon, alle klein und dreidimensional, räumig genug, um nicht nur Holzstöcke, sondern auch eine ganze Landschaft einzusperren. Einen Strand oder eine weite, mit Grasbüschel besprengte, bewachsene Steppe. übrigens, bei Inge-Rose Lippok landet alles früher oder später in einem Kästchen aus Plexiglas. Und ich nehme ihr das gar nicht übel. Unser Multiversum ist auch ein Kästchen, nur einen Schuß Lichtjahre größer.
Jetzt über den „Schlüßel zum Durchblick“, den die gewiefte Künstlerin „an dunklen Orten fand“. Ja, wo kann man denn am besten dem Geheimnis des Lebens und der Suche auf die Schliche kommen? Richtig! Da, wo es am dunkelsten ist. Und wo ist dieser Ort? Gemäß dem polnischen Sprichwort „am dunkelsten ist es immer unter der Laterne“. Inge-Rose Lippok erreicht diesen Zustand Dunkelseins mitten in einer prachtvollen Buntheit. Und sie findet nicht nur ihren Schlüßel zum Durchblick, zur Liebe, zu neuen Horizonten, sondern sie kann uns die von ihr frisch entdeckten Orte zugänglich machen. Und das ist eine Kunst an sich! Wer will, kann da sogar eintauchen. Ob er danach aber wieder heile herauskommt, kann sich als schwierig erweisen. Der Zyklus der Monotypien in Rahmen „Den Schlüßel zum Durchblick fand ich an dunklen Orten“ beinhaltet nämlich eine Botschaft, eine Warnung: Wenn du nicht vorbereitet bist, sei auf der Hut, lieber Vorbeischauender, es kann gefährlich sein! Vielleicht wird sich deine Welt verändern, vielleicht wird dich deine Frau oder dein Mann nicht mehr wiedererkennen. Und du selbst verlierst den Anschluß an die Wirklichkeit. Grausam! Die Kunst kann einen empfindlicher für die Sorgen der Menschheit machen oder aber auch mit Schweinegrippe anstecken.
Es wäre meinerseits unangebracht, wenn nicht ungehört, in der Eröffnungsrede keinen kulinarischen Akzent zu setzen. (Das am Anfang erwähnte Schmatzen zählt nicht.) Denn unsere vorzügliche Koloristin, deren Werke wir heute bewundern können, ist ja auch bekannt als eine begnadete Köchin. Dazu eignet sich prächtig der Zyklus „Liebesfische“. Da sieht man Blau auf Grün und Flach auf Gewölbt, was paßiert, wenn ein Fisch sich statt auf eine Pfanne in ein Künstleratelie verirrt. Er wird nicht gebraten, er wird zu einem Lustobjekt, Verzeihung, selbstverständlich zu einem Liebesobjekt! So hartherzig können manchmal Künstler sein, denen es versagt bleibt, ein eigenes Restaurant zu führen. Mahlzeit!
Die neuen und neusten Bilder, Objekte und Monotypien von Inge-Rose Lippok werden unter dem Motto „In eigener Sache“ präsentiert. Und schon wieder tappen wir in eine Falle, eine doppelsinnige Tücke. Den Titel der Außtellung kann man durchaus leicht mißverstehen: Die Künstlerin hat sich als Galeristin, die sie ja tatsächlich ist, lange genug für andere Künstler eingesetzt, ihre Werke bemuttert, bevätert und zur Schau gestellt, und jetzt ist sie an der Reihe, jetzt will sie etwas für sich selbst machen, für ihren vorsterblichen und auch unsterblichen Ruhm. Sie handelt also „in eigener Sache“. Aber auch ihre Werke tun das. Denn, unabhängig von den Absichten der Künstlerin, sprechen sie ebenfalls „in eigener Sache“. Für ein Bild ist es unwichtig, völlig irrelevant, wer es gemalt hat. Das ist nur wichtig für uns, Menschen. Bilder wollen nur eins, sie wollen gut gemalt werden. Bilder leben in einer Welt, in der es keine Urteile, keine Nörgler und auch keine Bewunderer gibt. Aus unserer Sicht ist diese Welt verkehrt, ver-rückt. Und das hat uns Inge-Rose Lippok auf wundersame Weise schon wieder gezeigt. Zwischen den Farben ihrer Werke schweben Geister der Suche und der Entdeckung, die jeder von uns heute für sich sichtbar machen kann. Die Künstlerin sagte zu mir einmal: „Ich mag Farben und Malen. Jeder Strich ist für mich ein Abenteuer“. Und sie erlaubt uns heute, an ihren phantastischen Abenteuern teilzuhaben.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne: ran an die Bilder, ran an die Objekte und die Monotypien! Die Kunst ruft! Und laßen wir sie nicht ver-rücken!